Weiterlesen: Rechtsforschung © ProLitteris, Heiner Busch†
Organisierter Drogenhandel oder Massenphänomen? Befunde und Schlussfolgerungen anhand der Schweizer Drogendatenbank DOSIS
Heiner Busch†
1. Einleitung
„Zur Zeit wird viel mehr Geld für Repression aufgewendet“ als für Therapie und Prävention. So Marcel Bebié, heute Zürcher Kripo-Chef, im Jahre 1993 gegenüber der Basler Zeitung (BaZ, 15.4.1993). Bebié war Anfang 1993 zum Chef der Betäubungsmittel-Zentralstelle des Bundesamtes für Polizeiwesen ernannt worden. Die Repression, so der damals oberste Drogenfahnder der Schweiz, sei allenfalls auf dem bisherigen Niveau beizubehalten und nicht noch auszubauen. Das Ziel – so erklärte er kurz zuvor in der Berner Zeitung – bestünde darin, an „die großen Dealer heran(zu)kommen“ (BZ, 25.2.1993). Weniger Druck auf die Konsumenten, strenge Verfolgung der „großen Fische“, der wirklichen organisierten Kriminellen – das scheint zumindest bei einem Teil der Schweizer Polizeien und ihrer politischen Führungen offizielle Linie zu sein. Auf den folgenden Seiten geht es nicht um die Frage, ob die liberale Haltung gegenüber den Konsumierenden wirklich durchgehalten wird. (Angesichts der nach wie vor hohen Zahl der Verzeigungen wegen bloßen Konsums und der fortdauernden Strategie, offene Drogenszenen aufzulösen und Junkies von ihren Treffpunkten zu vertreiben – die Szene zu „bewegen“ -, dürfte dies bezweifelt werden.) Wir wollen vielmehr die andere Seite der Linie unter die Lupe nehmen: Was tut die Polizei gegen die „großen Fische“ und – vor allem – wie tut sie es?
2. Großes Geschütz gegen große Gefahr?
Sicher ist jedenfalls, dass die „organisierte Kriminalität“ (OK) auch in der Schweiz der zentrale ideologische Bezugspunkt der Politik der Inneren Sicherheit seit 1989, d.h. seit dem Fichenskandal, gewesen ist. Kaum eine Gesetzesvorlage in diesem Bereich unterlässt den Hinweis auf die drohenden Gefahren der OK. Und die Zahl der Vorlagen war und ist groß: da waren die „Maßnahmepakete“ des Bundesrats zur Bekämpfung der OK – das erste trat 1990 (AS 1990 1077-1078), das zweite 1994 in Kraft (AS 1994 1614-1618). Es beinhaltet u.a. die Einführung des Art. 260ter StGB über kriminelle Organisationen. Aus dem zweiten Maßnahmepaket wurde das Bundesgesetz über die kriminalpolizeilichen Zentralstellen – in Kraft seit Anfang 1995 – ausgekoppelt (BG vom 7.10.1994, BBJ. 1994 Jll 1850). Hinzu kommen die Zwangsmaßnahmen im Ausländerrecht, über die das Volk im Dezember 1994 abstimmte und die am 1. Februar 1995 in Kraft traten. Sie sollten offiziell vor allem kriminelle Ausländer, meist Drogenhändler, treffen (AS l 995 146-151). Im März 1997 beschlossen National- und Ständerat das „Bundesgesetz über Maßnahmen zur Wahrung der inneren Sicherheit“, kurz: Staatsschutzgesetz, eine Vorlage des Bundesrates aus dem Jahre 1994 (BBI. 1994 II 1127).
Damit ist die Liste längst nicht abgeschlossen (EJPD 1997). Ein Gesetzesentwurf über verdeckte Ermittlungen ging im Juli 1995 in die Vernehmlassung. Im September 1996 schickte das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) einen weiteren Entwurf über die Ausweitung der Ermittlungskompetenzen des Bundes auf schwerere Fälle von OK und Wirtschaftskriminalität in die Debatte. Noch auf dem Plan stehen eine Kronzeugenregelung, die Novellierung der Bestimmungen über die Telefonkontrolle, Verhandlungen und eventuell Staatsverträge mit den Nachbarstaaten, die allesamt Mitglieder der Schengener Vertragsgemeinschaft und der EU sind.
Hier fehlt der Raum, um im Einzelnen auf den Inhalt dieser Gesetze und der administrativen Maßnahmen, die damit im Zusammenhang stehen, einzugehen. Dennoch können einige grundsätzliche Linien festgehalten werden:
1. Strafverfolgung und Polizei wurden mit Bezug auf den Drogenhandel und die Organisierte Kriminalität allgemein zentralisiert. Profitiert haben davon vor allem die Zentralstellendienste (ZSD) beim Bundesamt für Polizeiwesen sowie die Bundesanwaltschaft. Die Bundespolizei (Bupo), der geheimdienstliche Apparat also, wird nur am Rande beteiligt. Auf Druck von Staatsanwälten, Untersuchungsrichtern und Kriminalpolizisten musste Bundesrat Arnold Koller von seiner ursprünglichen Absicht abgehen, auch den Staatsschutz mit weitgehenden präventiven Kompetenzen gegen die OK auszustatten. Der Bupo bleibt die Aufgabe, den Nachrichtenfluss von ausländischen Geheimdiensten zu den ZSD und den kantonalen Polizeien und Strafverfolgungsbehörden weiterzuleiten.
2. Doch auch diese wurden bzw. sollen mit Instrumenten ausgestattet werden, die früher nur für den Staatsschutz kennzeichnend waren: Kronzeugen, V-Leute-Einsatz, Telefonkontrolle und (kriminalpolizeilicher) Lauschangriff werden rechtlichabgesichert bzw. erhalten eine veränderte rechtliche Grundlage. Die ZSD werden von bloßen Schnittstellen für den polizeilichen Rechtshilfeverkehr mit dem Ausland zu Intelligence-Zentralen umgebaut (Bundesamt für Polizeiwesen, 1996a). Sie führen auch die zentralen Computersysteme – die Drogendatenbank DOSIS ist schon in Betrieb, eine weitere, eventuell mit DOSIS zu verbindende Datenbank für sonstige Organisierte Kriminalität soll folgen.
3. Auch der strafrechtliche Spielraum wurde ausgebaut. Mit dem Strafrechtsartikel 260ter – Kriminelle Organisation – erhielten die Kriminalpolizeien die Befugnis zur Ermittlung weit im Vorfeld konkreter einzelner Straftaten. Der traditionelle liberale Zuschnitt auf die Verfolgung bereits begangener, klar umrissener Straftaten, deren Beschuldigte der Justiz zur Aburteilung zugeführt werden sollen, wird aufgelöst.
Gegen das, was als organisierte Kriminalität bezeichnet – oder besser: empfunden – wird, hat der Staat in den vergangenen Jahren schweres Geschütz aufgefahren. Legitimiert wird diese Aufrüstung durch die Beschwörung der besonderen Gefährlichkeit der OK. Sie sei gewalttätig, drohe Staat und Wirtschaft durch Korruption und Drohung zu unterwandern. Die agierenden Banden seien hochgradig arbeitsteilig und organisiert. Und vor allem gingen sie international und interkantonal vor, was eine Verfolgung durch die normalen Strafverfolgungsorgane auf kantonaler Ebene ineffizient mache. Wir ersparen den Lesern hier die Wiedergabe der entsprechenden Debatten aus dem Parlament. (1) Wer sich eine Lektüre zumuten will, wird vor allem eines finden: eine erschreckende Unwissenheit, mit der zum Teil abstruse Feindbilder vorgetragen werden, die den Beschwörungen der Gefahr des Kommunismus zu Zeiten des Kalten Krieges kaum nachsteht. Diese Beschwörungen kontrastieren mit der vorsichtigen Herangehensweise von befassten Wissenschaftlern. Selbst das im Auftrag des EJPD erstellte Gutachten (Pieth und Freiburghaus, 1993) macht klar, dass OK vor allem ein polizeilicher Arbeitsbegriff ist. Es gibt keine feste juristische Definition, aus der sich ein klarer strafrechtlicher Tatbestand ableiten ließe. Und auch Sozialwissenschaftler und Ökonomen streiten sich um den Begriff, ringen um Differenzierungen oder lehnen ihn gar ab.
An dieser Stelle soll nicht der übliche Streit um Definitionen geführt werden. (2) Wir fragen vielmehr anders herum: Findet sich die Vorstellung der hochorganisierten Banden im polizeilichen und justiziellen Output wieder? Wir untersuchen zu diesem Zweck die Angaben über das Drogeninformationssystem DOSIS und setzen sie in Bezug zu den Verzeigungen und Verurteilungen in Sachen Drogenhandel. Anders ausgedrückt: wer wird bekämpft, wenn der organisierte Drogenhandel bekämpft wird?
3. DOSIS – das Konzept einer Ermittlungsdatenbank
„Der Bundesrat will die Zentralstelle zur Bekämpfung des illegalen Betäubungsmittelverkehrs im Bundesamt für Polizeiwesen mit einem modernen und leistungsfähigen Datenverarbeitungssystem ausstatten. Die Zentralstelle wird zusammen mit den Kantonen die Drogendatenbank DOSIS betreiben, um den illegalen Dro genhandel – ein bevorzugter Tätigkeitsbereich des organisierten Verbrechens –
noch wirksamer bekämpfen zu können.“ So beginnt die Pressemitteilung des EJPD vom 23. März 1994, mit der die Verordnung über „das provisorische Datenverarbeitungssystem zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels (DOSIS-Verordnung)“ (AS 1994 1028-1034) der Medienöffentlichkeit bekannt gegeben wurde. Mit dem Inkrafttreten der Verordnung am 1. Mai 1994 wurde die interne Testphase, mit der das BAP am 15. Januar 1993 begonnen hatte, abgelöst durch die „Pilotphase“. Auf der Grundlage der Verordnung konnten nun die Betäubungsmittel-Dienste von acht Versuchskantonen – Tessin, Waadt, Genf, Bern, Luzern, St. Gallen, Aargau und Thurgau – Daten direkt in die Datenbank eingeben und daraus abrufen. Mit Informationen aus der Datenbank, die sowohl der interkantonalen als auch der internationalen Kooperation dienen soll, werden auch ausländische Zentralstellen bedient. Letztere erhalten „ihre“ Daten auf konventionellem Wege, können sich also nicht online selbst bedienen. Dasselbe gilt für die Bundesämter für Flüchtlinge und für Ausländerfragen (BFF und BFA), die aus den DOSIS-Informationen ausländer- und asylrechtliche Maßnahmen ableiten sollen.
Zweieinviertel Jahre später wurde die „Pilotphase“ offiziell abgeschlossen. Eine neue, leicht überarbeitete DOSIS-Verordnung trat am l. August 1996 in Kraft (AS 1996 2287-2294). Inzwischen hatte die Datenbank durch das Zentralstellengesetz eine zusätzliche gesetzliche Absicherung erfahren. Unter dem Hinweis, dass kriminelle Organisationen die polizeiliche Strategie ausforschen könnten, hatten Bundesrat und Parlamentsmehrheit ein Einsichtsrecht für Betroffene abgelehnt. Mit der neuen definitiven Verordnung soll der online-Anschluss für weitere Kantone geöffnet werden. Auch weiterhin wird der Kanton Zürich – der Kanton mit der größten (halb-)offenen Drogenszene der Schweiz – nicht an DOSIS beteiligt werden: Das kantonseigene Datensystem ist mit dem des BAP nicht kompatibel.
Sowohl in der provisorischen, als auch in der endgültigen DOSIS-Verordnung wird die Erfassung in DOSIS ausdrücklich auf den Drogenhandel beschränkt: „Die in DOSIS· gespeicherten Daten betreffen ausschließlich den Drogenhandel. (…) Daten, die reine Drogenkonsumenten betreffen, werden in DOSIS nicht registriert.“ (3)
Die wichtigsten DOSIS-Daten sind in den Subsystemen „Personen und Vorgänge“ (PV) und „Journal“ enthalten. Der PV-Datensatz enthält einerseits die Stammdaten über die Identität der erfassten Person, zum anderen entsprechende Sachverhalte wie Festnahmen, Sicherstellungen, Ermittlungsverfahren, etc. sowie Subfelder, die eine Verknüpfung der Daten mit jeweils anderen Datensätzen ermöglichen sollen. Während PV die personenbezogene Komponente des Systems ist, ist das „Journal“ fallbezogen geordnet.
DOSIS speist sich sowohl aus gerichtspolizeilichen Verfahren als auch aus Ermittlungen, welche die Polizeien des Bundes und der Kantone vor Eröffnung eines konkreten Ermittlungsverfahrens sammeln. Hinzu kommen Informationen, die die schweizerischen Polizeien aufgrund von Rechtshilfeersuchen ausländischer Polizeien zusammengetragen haben. Erfasst werden sowohl „gesicherte“, als auch „ungesicherte“ Daten, Verdachtsmomente, die noch nicht abgeklärt sind. Daten aus Telefonkontrollen, von V-Leuten und Informanten gelten als „gesichert“.
Ein Kontrolldienst soll gewährleisten, dass die Bestimmungen der Verordnung von den Benutzern eingehalten wird. Kontrollieren soll er nicht nur den Datenschutz, sondern vor allem auch die Aktualität und Notwendigkeit der gespeicherten Daten.
Dem Konzept nach soll DOSIS also eine Ermittlungsdatei darstellen, die es den spezialisierten Dienststellen ermöglichen soll, nicht mehr isoliert vor sich hin zu arbeiten, sondern ihre Informationen zusammenzutragen und gemeinsam auszuwerten. Eine Arbeitsdatei also und kein Datenfriedhof.
4. Über-DOSIS an Daten
Das Konzept der Ermittlungsdatenbank mag auf den ersten Blick einleuchten. Bei genauerem Blick auf die Datenmenge und die gespeicherten Personen zeigt sich aber auch bei DOSIS das altbekannte Problem der Datenhaltung auf Vorrat. Was enthält also die Datenbank?
Informationen zum Inhalt polizeilicher Daten sind grundsätzlich rar. Aus eigenem Anstoß wird selten informiert. In Sachen DOSIS ergeben sich die vorliegenden Zahlen aus der Antwort des Bundesrates auf eine einfache Anfrage von Nationalrat Paul Rechsteiner (EA Rechsteiner, 1996) sowie aus Nachfragen des Verfassers beim BAP.
Danach ergibt sich folgendes Bild:
1. In der zweijährigen Pilotphase wurden rund 250’000 Daten über insgesamt 56’037 Personen erfasst. Von den Versuchskantonen und vom BAP wurden dabei gerade 9’297 Identitäten – 6’934 vom BAP, 2’363 von den Kantonen – registriert. Gerade 16,6% der Personendaten resultieren damit aus dem online-Verfahren. Dagegen stammen Daten über 46’740 Personen aus den traditionellen Rapporten, die die Kantone der Betm-Zentralstelle zukommen lassen. Sie wurden von der Zentralstelle aufgrund von bloßen Formularmeldungen erfasst und geben in der Regel nichts weiter als den Text einer Verzeigung wieder.
2. Im November 1996 nahm das BAP eine erste große Überprüfung des Datenbestandes vor. Aufgrund dieser Überprüfung wurden 48’000 Daten über insgesamt 23’000 Personen gelöscht. In der Regel handelt es sich dabei um Altdaten. Dieser hohe Anteil alter Daten, die seit der ersten Eingabe nicht weiter ergänzt wurden, ergibt sich vor allem aus der Tatsache, dass die Zentralstelle bei Inbetriebnahme des Systems alle Anzeigen wegen Drogenhandel seit 1987 nacherfasst hat.
3. Unter den erfassten Personen sind laut der Bundesratsantwort keine reinen Drogenkonsumenten. Art. 3 Abs. 3 der VO wird danach also eingehalten. Gerade 376 waren sowohl Händler als auch Konsumenten. Diese Zahl der für die untere Ebene des Drogenhandels typischen Mischfälle der Abhängigen, die ihren Konsum durch eigenen Handel finanzieren, ist vergleichsweise gering, was u.a. daraus resultieren könnte, dass die Polizei die betreffenden Personen nur wegen des schwereren Delikt des Handels erfasste und das leichtere, den Konsum einfach fallen ließ. Wieviele Mischfälle nach November letzten Jahres weiter in der Datenbank verblieben, ist unbekannt. Konsumenten, so teilte der Pressesprecher des BAP am 2. Juli 1996 dem Verfasser mit, würden in DOSIS „nur im Zusammenhang einer Untersuchung gegen einen größeren Drogenhändler oder Drogenhändlerring“ erfasst.
3. Daraus abzuleiten, bei den restlichen DOSIS-Personen handelte es sich durchgängig um Drogenhändler, gar um die berühmten großen Fische, wäre allerdings verfehlt. Von den 56’000 vor November 1996 erfassten waren rund 20’000 bloße Kontaktpersonen, unter den 33’000 nach November verbliebenen waren es noch rund 15’000. Der Anteil der Kontaktpersonen nach Art. 3 Abs. 2 der Verordnung hat sich also sogar noch erhöht.
4. Zieht man auch die Kontaktpersonen ab, blieben also vor der Überprüfung des Datenbestandes 36’000 Händler resp. Verdächtige in DOSIS. Nach der Löschung hat sich diese Zahl halbiert. Dennoch: sie bleibt ungeheuer hoch. Vor November hätte sie sogar die geschätzte Zahl der abhängigen Konsumenten in der Schweiz – 30’000 – überstiegen. (4) Auf einen Abhängigen wären vor November 1996 1,2 Händler gekommen (nach November 0,6).
5. Masse statt Klasse
Die Masse der in DOSIS erfassten Drogenhandelsverdächtigen steht in einem krassen Missverhältnis nicht nur zur Zahl der Drogenabhängigen, sondern auch zum Output von Polizei und Justiz in Sachen Drogenhandel. Für den Zeitraum von 1987 bis November 1996 waren in DOSIS 36’000 Personen als Drogenhandelsverdächtige erfasst worden. Für die selben zehn Jahre erreicht die Zahl der Verzeigungen wegen Drogenhandels mit gerade 16’959 Fällen nicht einmal die Hälfte (Estermann/Rônez 1995, S. 19, Bundesamt für Polizeiwesen 1995/1996). (5) Die Zahl der verzeigten Personen liegt erheblich tiefer. (6)
Der Output der Justiz, ausgedrückt in der Zahl der Verurteilungen, liegt naturgemäß tiefer als der der Polizei. l l ‚824 Verurteilungen wegen Drogenhandels (incl. Schmuggel) erfolgten von 1987 bis 1995. Kalkuliert man die eventuellen Nachmeldungen für das Jahr 1995 sowie die zu erwartenden Verurteilungen 1996, so wird die Gesamtzahl der Verurteilungen in den zehn Jahren (1987-1996), auf die sich auch die DOSIS-Erfassungen beziehen, mit Sicherheit unter 14’000 bleiben. (7)
Dies sind keineswegs nur die schweren Fälle von Drogenhandel. Die allgemeine Zahl der Verzeigungen und Verurteilungen sagt weder etwas aus über die Art und Menge der Drogen, noch über die Frage, ob die Betreffenden ihren Handel in gewerbsmäßiger Weise, als Mitglied eines Händlerringes oder eben nur gelegentlich und allein agierend betrieben. Die Zahl der schwereren Fälle liegt erheblich niedriger.
Dies zeigt sich spätestens dann, wenn man die Bewertung der Gerichte in Rechnung stellt, wie sie im Strafmaß zum Ausdruck kommt. 1993 wurden 2’264 Personen polizeilich verzeigt. Von den insgesamt 1’834 im selben Jahr verurteilten Personen erhielten l ‚681 eine Freiheitsstrafe. Nur 726 davon waren unbedingte Strafen (d.h. ohne Bewährung). Auf mehr als 18 Monate beliefen sich nur 496. Nur diese 27% aller 1993 gefällten Verurteilungen wegen Drogenhandels werden von der Justiz als schwerwiegend angesehen – erkennbar an ihrem Bewertungskriterium, dem Strafmaß.
Selbst wenn man unterstellt, dass die Zahl der Verdächtigen immer höher liegt als die der am Ende verurteilten, lässt sich mit bestem Willen nicht behaupten, die Datenmenge in DOSIS entspräche dem Konzept des organisierten Drogenhandels, das die Datei rechtfertigen soll. Hier wird nicht eine eingeschränkte Gruppe möglicherweise „großer Fische“ registriert, sondern die Masse derjenigen, die irgendwann einmal polizeilich aufgefallen sind – in welchem Zusammenhang mit dem Drogenhandel und auf welcher Handelsebene auch immer.
DOSIS ist deshalb kein Instrument der Ermittlung und Auswertung. Es dürfte der Polizei kaum gelingen, aus einer solchen Datenmasse vernünftige Verdachtsmomente oder Ansatzpunkte für Ermittlungen herauszukristallisieren. Der Umstand, dass die Daten über 23’000 Personen seit ihrer Speicherung nicht wieder angerührt wurden und folglich zu löschen waren, gibt einen deutlichen Hinweis auf den Charakter von DOSIS als einer bloßen Registerdatei, oder anders ausgedrückt: als Datenfriedhof.
Datenbanken wie DOSIS dienen allenfalls dazu, bei neuanfallenden Informationen abzuklären, ob es bereits vorhandene Informationen zu einer bestimmten Person gibt. Neue Daten gesellen sich zu alten, eine Aussage über deren Qualität und über die Schwere des Verdachts bzw. des Tatvorwurfs ist damit nicht gemacht. Zu befürchten ist vielmehr das bei Polizeidateien bekannte Phänomen, dass Daten weitere Daten hecken.
6. Konsequenzen
Die vorliegenden Befunde gründen sich ausschließlich auf allgemeine Angaben über die Datenstruktur von DOSIS sowie über die kriminalstatistischen Daten. Auf dieser Grundlage lassen sich dennoch wesentliche Schlussfolgerungen ziehen:
Die Masse von gespeicherten Daten und die ebenfalls hohe Zahl von Verzeigungen und Verurteilungen wegen Drogenhandels verweisen darauf, dass der von Polizei und Strafverfolgungsbehörden erfasste Ausschnitt des Drogenhandels (und seines Vorfeldes) ganz und gar nicht das Bild dessen abgibt, was üblicherweise unter „organisierter Kriminalität“ verstanden wird. Kleine konspirative Gruppen könnten nicht zu derart hohen Zahlen erfasster, verzeigter und verurteilter Personen führen.
Daraus ergeben sich zwei mögliche Interpretationen: Entweder kommt die Polizei nicht an die vermeintlichen „großen Fische“ heran – sei es wegen ihrer beschränkten Ressourcen oder sei es wegen der perfekten Konspiration der betreffenden Leute. Oder: der Drogenhandel hat tatsächlich den Charakter eines Massenphänomens und die These von der organisierten Kriminalität ist falsch.
Die beiden Thesen führen zu konträren politischen Konsequenzen. Aus der ersten würde folgen, dass die polizeilichen Ressourcen noch weiter auszubauen und die Mittel zu verfeinern wären: mehr und vor allem spezifischere Daten, mehr spezialisiertes Personal zur Auswertung von Informationen, mehr Vorfeldtätigkeit der Polizei und natürlich mehr Geld für diese polizeiliche Tätigkeit. An der bisherigen Ausrichtung der Drogenpolitik auf polizeiliche „Lösungen“ würde nichts geändert.
Die zweite Interpretationsvariante führt zu einem politischen Schnitt, zur Anerkennung der Tatsache, dass es nicht um Drogenbekämpfung oder gar Drogenkrieg, sondern um Drogenpolitik geht. Eine Entkriminalisierung auch im Bereich des Drogenhandels wäre unausweichlich.
Diese Variante ist sicherlich die schwierigere, aber auf Dauer die richtigere. Bei einer geschätzten Menge von zehn bis elf Tonnen Heroin, die jährlich die Konsumierenden in der Schweiz erreicht (8), ist kaum anzunehmen, dass diese Arbeit von kleinen abgeschotteten Banden verrichtet wird. Dass es auf dem Drogenmarkt Mächtigere und weniger Mächtige gibt, versteht sich von selbst. Dennoch: Der Markt für illegale Drogen ist wie kaum ein anderer durch Konkurrenz geprägt. Gelegentliche polizeiliche Erfolge ändern nichts an der Tatsache, dass sowohl neue Händler an die Stelle der eben festgenommenen als auch neue Waren an die Stelle der gerade sichergestellten treten. Nur so ist der Preissturz der vergangenen Jahre zu erklären: Das Gassengramm Heroin ist mittlerweile für ca. 50-60 sFr. zu erhalten. Dies ist zwar immer noch ein durch Kriminalisierung und Schwarzmarkt überhöhter Preis, der allerdings nicht mehr weit entfernt ist von der Tagespauschale von 15 sFr., die die Abhängigen in den Heroinvergabeprojekten für ihre tägliche Dosis zu zahlen haben. (9)
Die Zeit für eine radikale Veränderung der Drogenpolitik ist reif. Sie spart nicht nur Geld, das für Repression auszugeben wäre, sie erspart uns auch Einschnitte in die Liberalität.
Fussnoten
1 Die genannten Allgemeinplätze sind nachzulesen in der Nationalratsdebatte vom 22.9.1994 über das Zentralstellengesetz, AB NR. 1994 III 1423 ff.
2 Zur Debatte um den OK-Begriff in Deutschland und seine Bezugspunkte in den USA, siehe Busch (1992), kritisch dazu Kunz (1996).
3 Art. 3 der endgültigen Fassung, die gegenüber Art. 2 der provisorischen Fassung nur leichte Veränderungen redaktioneller Art aufweist. Neu ist nur Abs. 2, der auf die sogenannten Kontaktpersonen eingeht; siehe dazu weiter unten.
4 Neueste Schätzungen bei Fahrenkrug (1995) und Estermann u.a. (1996).
5 Wir beziehen uns im Folgenden auf die Verzeigungen und Verurteilungen ausschließlich wegen Drogenhandels und -schmuggels. Die Mischfälle (Handel in Verbindung mit Konsum), die auch in DOSIS nur eine untergeordnete Rolle spielen, lassen wir außer Acht.
6 Von den 2’716 Verzeigungen wegen Handels mit und Schmuggels von Betäubungsmitteln, die das Bundesamt für Polizeiwesen in seiner Statistik für 1996 zählt, bezogen sich 2’270 auf Personen, die „rückfällig“ waren, d.h. die bereits vorher einmal einschlägig von der Polizei verzeigt worden waren.
7 Zahlen für 1987-1993 in Estermann/Rônez (1995, S. 71). Ein Update der Veröffentlichung „Drogen und Strafrecht“ des Bundesamtes für Statistik steht bisher leider aus. Informationen für 1994 und 1995 teilte Frau Simone Rönez (BFS) freundlicherweise mündlich mit.
8 Peter Hug spricht im Tagesanzeiger vom 28. Mai 1997 ohne weitere Begründung von zehn Tonnen. Estermann (1995, S. 12) geht in seiner Schätzung vom Bedarf der 30’000 abhängig Konsumierenden aus und kommt auf 11 Tonnen Heroin, allerdings bereits in der üblichen Schwarzmarktkonzentration von ca. 50%.
9 Die Konzentration des verschriebenen und abgegebenen Heroins wird individuell vom Arzt festgelegt. Unabhängig von der Konzentration haben die an den Versuchen beteiligten Abhängigen die Tagespauschale von 15 sFr. zu entrichten.
Literaturangaben
Bundesamt für Polizeiwesen, Zentralstelle Rauschgift (jährlich): Schweizerische Betäubungsmittelstatistik, Bern.
Bundesamt für Polizeiwesen (1996a): Detailkonzept für die Reorganisation der Zentralstellendienste im Bundesamt für Polizeiwesen, Bern 17.6.1996.
Busch, Heiner (1992): Organisierte Kriminalität – vom Nutzen eines unklaren Begriffs, in: Demokratie und Recht, 1992, Heft 3, S. 375 ff.
Busch, Heiner (1997): Technologische Revolution bei der Schweizer Polizei, in: Bürgerrechte & Polizei (CILIP) 56, 1997, H. 1, S. 62 ff.
EA Rechsteiner (1996): Einfache Anfrage Rechsteiner Paul (SP/SG) – Antwort des Bundesrates vom 20.11.1996, NR 96.1076.
Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement – EJPD (1997): Presserohstoff – Vorhaben im Bereich Polizei und Strafprozessrecht, Bern 29.3.1997.
Estermann, Josef und Rônez, Simone (1995): Drogen und Strafrecht in der Schweiz, Bundesamt für Statistik, Bern.
Estermann, Josef (1995): Die Kosten der Drogenrepression, Bundesamt für Statistik, Bern.
Estermann, Josef; Herrmann, Ute; Hügi, Daniela; Nydegger, Bruno (1996): Sozialepidemiologie des Drogenkonsums, VWB, Berlin.
Fahrenkrug, Hermann et al. (1995): Illegale Drogen in der Schweiz 1990-1993, Seismo, Zürich.
Kunz, Karl-Ludwig (1996): Maßnahmen gegen die organisierte Kriminalität, in: Plädoyer, 1996, H. 1, S. 32 ff.
Pieth, Mark und Freiburghaus, Dieter (1993): Die Bedeutung des organisierten Verbrechens in der Schweiz, Bericht im Auftrag des Bundesamtes für Justiz, Bern Oktober 1993.
Verordnung über das provisorische Datenverarbeitungssystem zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels (DOSIS-Verordnung – 1. Version), AS 1994, 1028-1034.
Verordnung über das Datenverarbeitungssystem zur Bekämpfung des illegalen Drogenhandels (DOSIS-Verordnung – 2. Version), AS 1996, 2287-2294.
Abkürzungen:
AS Amtliche Sammlung des Bundesrechtes
BBl. Bundesblatt